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Europa – ein erstklassiger Platz zum Leben und Arbeiten?
Europa – ein erstklassiger Platz zum Leben und Arbeiten?
„Ein erstklassiger Platz zum Leben und Arbeiten“ – so beschrieb Präsident Juncker Europa, als er letzten Monat in Göteborg, nach der Unterzeichnung, feierlich die europäische Säule sozialer Rechte proklamierte.
Vor den Staats- und Regierungschefs aus der gesamten EU, die zusammengekommen waren, um sich zu 20 sozialen Grundsätzen und Rechten zu bekennen, unterstrich der Kommissionschef, dass Europa mehr ist „als nur ein Binnenmarkt ... Es geht um unsere Werte und um die Art, wie wir leben wollen.“
Und wie genau leben wir? Empfinden die 510 Millionen Europäer in den (noch) 28 EU-Mitgliedstaaten ihre Lebensbedingungen wirklich als „erstklassig“?
Auf viele Europäer trifft das sicherlich zu. Viele andere sind aber immer noch benachteiligt, fühlen sich ausgeschlossen oder leben in prekären Verhältnissen, kämpfen um vernünftigen Wohnraum und einen ordentlichen Arbeitsplatz und machen sich Sorgen um die Zukunft – die eigene und die ihrer Kinder. Mancherorts gibt diese Angst populistischen Bewegungen Auftrieb, die sich augenscheinlich gegen die bestehenden Verhältnisse richten und das Bild der Gesellschaft in düstere Farben tauchen.
Doch wie so häufig ist auch hier die Wirklichkeit wesentlich komplexer.
Tatsächlich blicken wir auf mehrere insgesamt gute Jahre zurück, und „Europa hat (wahrhaftig) wieder Wind in den Segeln.“ Die jüngste Europäische Erhebung zur Lebensqualität hat ergeben, dass die Lebensqualität, die Qualität der Gesellschaft und die Qualität der öffentlichen Dienstleistungen insgesamt gestiegen sind. Für viele Menschen hat sich die Lebenssituation verbessert, wenn auch im Vergleich zu manifesten Tiefständen während der Wirtschaftskrise. In einigen Fällen haben die Indikatoren sogar wieder den Stand vor der Krise erreicht. Dies ist zum Teil auf den allgemeinen Konjunkturaufschwung und das neuerliche Wachstum in allen Mitgliedstaaten zurückzuführen.
Der Optimismus hat zugenommen, und die Bewertungen von Lebenszufriedenheit und Glück sind in den meisten EU-Ländern nach wie vor relativ hoch. Die Zufriedenheit mit dem Lebensstandard ist in mehr als der Hälfte der Mitgliedstaaten gestiegen, und mehr Menschen als 2011 können ihren Lebensunterhalt gut bestreiten.
Das Vertrauen in die nationalen Institutionen ist durchgängig stärker geworden, und insbesondere unter jungen Menschen ist das Vertrauen in andere Menschen gewachsen. Auch die begrüßenswerte Zunahme an Engagement und Beteiligung an sozialen und gemeinschaftlichen Organisationen in allen Mitgliedstaaten sowie die Abnahme des Gefühls sozialer Ausgrenzung, das während des Konjunkturabschwungs weiter verbreitet war, sind Anzeichen für eine Verbesserung der Lage nach der Krise. Gesellschaftliche Spannungen zwischen Arm und Reich, Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Alt und Jung sowie Männern und Frauen werden heute alle als schwächer wahrgenommen als noch vor fünf Jahren.
Darüber hinaus sind die Menschen, ganz im Gegensatz zu gängigen Vorstellungen, heute insgesamt zufriedener mit wichtigen öffentlichen Dienstleistungen: Gesundheitswesen, Verkehr – und in einigen Ländern sogar mit der Kinderbetreuung.
So weit, so gut, könnte man meinen.
Dennoch liegt unverkennbar noch ein gutes Stück Weg vor uns.
Während eine Reihe von Ländern insbesondere in Mittel- und Osteuropa weiterhin aufholen, ist in anderen die Angleichung nach oben ins Stocken geraten. In einigen Bereichen sind sie sogar zurückgefallen. So ist die Zufriedenheit mit dem Lebensstandard insbesondere in Bulgarien, Estland, Irland, Polen und Ungarn gestiegen; in Griechenland, Italien, Kroatien, Spanien und Zypern hingegen ist die Lebenszufriedenheit gesunken. Beim Zugang zu Gesundheits- und Pflegedienstleistungen und bei deren Qualität bestehen nach wie vor große Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten.
Auch die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern sowie zwischen verschiedenen Alters- und Einkommensgruppen ist weiterhin stark ausgeprägt.
Beispielsweise ergab die Erhebung, dass Frauen mit ihrem Leben zufriedener sind als Männer. Sie leisten aber weiterhin mehr unbezahlte Haushalts- und Pflegearbeit als Männer. Der zunehmende Bedarf an Langzeitpflege für ältere Menschen, zu der Frauen nach wie vor einen höheren Beitrag leisten, verstärkt die Unterschiede zwischen den Geschlechtern auf diesem Gebiet und dürfte eine der Hauptursachen für Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben sein.
Überhaupt geht es älteren Menschen schlechter als jüngeren, insbesondere in einigen Ländern Mittel- und Osteuropas. In Bulgarien, Kroatien, Malta, Polen, Portugal, Rumänien und Slowenien ist die Lebenszufriedenheit im Alter eindeutig geringer. Auch macht sich in zwei Dritteln der EU-Mitgliedstaaten mehr als die Hälfte aller Befragten Sorgen um ihren Lebensunterhalt im Alter.
Obwohl weniger Menschen als vor fünf Jahren nach eigener Einschätzung unter materieller Not leiden, gibt doch in 11 Mitgliedstaaten mehr als die Hälfte der Bevölkerung an, dass sie Schwierigkeiten hat über die Runden zu kommen. Die Armen haben nicht überraschend am meisten zu leiden, und entsprechend zeigen die Ergebnisse, dass sich die Lebensqualität für die unteren Einkommensgruppen weniger stark verbessert hat.
Tatsächlich sehen viele Europäer die Zukunft ihrer Kinder weniger optimistisch als ihre eigene Zukunft. Doch auch hier gibt es Unterschiede: Geringer ausgeprägt ist der Optimismus für zukünftige Generationen in Belgien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, Österreich, Slowenien, Spanien, der Tschechischen Republik und dem Vereinigten Königreich, während die Menschen in Bulgarien, Finnland, Lettland, Litauen und Polen die Zukunftsaussichten ihrer Kinder für günstiger halten als ihre eigenen.
Vor dem Hintergrund der allgemeinen und recht hitzigen Debatte über Migration und Mobilität in der gesamten EU ist erwähnenswert, dass die Spannungen zwischen verschiedenen Religions- und ethnischen Gruppen in bestimmten Ländern als deutlich verschärft wahrgenommen werden, insbesondere in Bulgarien, Estland, Dänemark, Deutschland, Malta, Österreich, Frankreich, Belgien und Italien. Dies trifft zu, obwohl die Spannungen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen allgemein als geringer wahrgenommen werden.
Vor dem Hintergrund dieses differenzierten Bilds vom Leben der EU-Bürger haben die Regierungen, Regionen und Kommunen, Sozialpartner und Organisationen der Zivilgesellschaft begonnen, die Säule sozialer Rechte in die Praxis umzusetzen.
Die Ergebnisse der Europäischen Erhebung zur Lebensqualität machen deutlich, dass sich die Politik vor allem um die bedürftigsten Gruppen kümmern muss. Das sind die Langzeitarbeitslosen – die in erhöhtem Maße von Armut, sozialer Ausgrenzung und psychischen Erkrankungen bedroht sind – im Kontext einer aktiven Beschäftigungsförderung. Es sind Frauen – die nach wie vor den größten Teil der Haushalts- und Pflegearbeit schultern – im Kontext des Gleichstellungsgrundsatzes und der Kinderbetreuung, aber auch im Hinblick auf Pflegeunterstützung und Dienstleistungen zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben im gesamten Arbeitsleben. Es sind von Armut betroffene ältere Menschen – im Kontext des Rechts auf ein angemessenes Einkommen im Alter und angemessene Altersrenten. Ein weiterer Schwerpunkt ist der unterschiedslose Zugang zu hochwertigen Dienstleistungen – im Kontext des Rechts auf rechtzeitigen Zugang zu bezahlbaren Gesundheits- und Pflegediensten.
Dies sind nur einige Initiativen, die unverzichtbar sind, um die ehrgeizigen Ziele dieser Säule im Alltag der Europäischen Bürger zu verwirklichen. Wenn dies wirklich zum entscheidenden Moment für Europa werden soll, dann müssen wir diesen Erkenntnissen und Ergebnissen in der Praxis Rechnung tragen. Nur so können wir „unsere Werte und die Art, wie wir leben möchten“, realisieren.