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Lebensqualität in Deutschland zunehmend losgelöst von der Wirtschaftsleistung
Wird die Große Koalition Deutschland zum Vorreiter der Integration machen?
Von Erika Mezger
Bei den Diskussionen über Deutschland auf europäischer Ebene geht es immer um die starke Wirtschaftsleistung des Landes und die Entwicklung des Arbeitsmarktes. In einem früheren Blogbeitrag habe ich selbst dazu beigetragen. Die Europäische Erhebung zur Lebensqualität (EQLS), die Eurofound 2016 durchführte, zeigt jedoch, dass die Wahrnehmung der Qualität der Gesellschaft in sowohl Deutschland als auch einigen anderen westeuropäischen Ländern zunehmend von der Wirtschaftsleistung getrennt ist. Während viele Indikatoren erwartungsgemäß die Position Deutschlands als Wirtschaftsmacht widerspiegeln, gibt es ernsthafte Anzeichen für wachsende Bedenken in anderen Bereichen, wie zum Beispiel den wahrgenommenen Spannungen zwischen ethnischen Gruppen und auch zwischen religiösen Gruppen.
Weniger Spannung zwischen Arm und Reich
Viele Aspekte der Umfrageergebnisse spiegeln weiterhin die anhaltend starke Wirtschaftsleistung Deutschlands wider. Insbesondere der Anteil der Menschen, die nur schwierig über die Runden kommen, ist seit der Erhebung von 2011 von 30% auf 21% (2016) gesunken – deutlich unter dem EU-Durchschnitt von 39%. Diese Verbesserung zeigt sich auch in dem Rückgang der wahrgenommenen Spannungen zwischen Arm und Reich. 35% der Befragten in Deutschland meldeten große Belastungen in 2003, während diese 2016 bei 29% lagen, was Deutschland auf EU-Durchschnitt bringt.
Die Menschen in Deutschland sind auch relativ zufrieden mit der Qualität ihrer öffentlichen Dienstleistungen. Die Bewertungen für alle gemessenen Dienste in der Erhebung 2016 liegen über den jeweiligen EU28-Durchschnittswerten. Darüber hinaus haben sich in den letzten Jahren viele der Dienstleistungen verbessert. So ist die wahrgenommene Qualität der Gesundheitsdienstleistungen von 6,5 (von 10) im Jahr 2003 auf 7,3 im Jahr 2016 gestiegen; der EU-Durchschnitt für 2016 lag bei 6,7. Auch die wahrgenommene Qualität des Bildungssystems hat sich von 6,5 im Jahr 2003 auf 7,0 im Jahr 2016 erhöht. Das staatliche Rentensystem wird zwar von den sieben begutachteten zentralen öffentlichen Diensten am schlechtesten bewertet, doch ist dies ein allgemeiner Trend und liegt immer noch leicht über dem EU-Durchschnitt.
Mehr Spannung zwischen ethnischen Gruppen
Während die sozioökonomischen und Klassenspannungen in Deutschland allmählich nachlassen, werden sie zunehmend durch wahrgenommene Spannungen zwischen ethnischen Gruppen ersetzt. In 2011 gaben noch 29% der Befragten in Deutschland an, dass zwischen den Gruppen eine starke Spannung besteht. In 2016 ist dieser Anteil auf 42% angestiegen. Diese deutliche Zunahme der ethnischen Spannungen wurde auch in einer Reihe anderer europäischer Länder, wie zum Beispiel Österreich, Italien und Frankreich, beobachtet.
Die gemeldete Zunahme der Spannungen zwischen religiösen Gruppen war sogar noch signifikanter und stieg von 28% im Jahr 2011 auf 45% im Jahr 2016 und befindet sich deutlich über dem EU-Durchschnitt von 38%. Die Menschen in Deutschland fühlen sich auch in Bezug auf ihre persönliche Sicherheit weniger sicher als in anderen EU-Ländern. Nur 22% der Befragten gaben an sich sicher zu fühlen, wenn sie im Dunkeln alleine gehen – deutlich weniger als der EU-Durchschnitt von 35%.
Während 68% der Befragten in Deutschland optimistisch über ihre eigene Zukunft sind, fällt dieser Anteil auf 58%, wenn es um die Zukunft ihrer Kinder oder Enkel geht.
Eine Koalition für den sozialen Zusammenhalt?
Wir dürfen nicht vergessen, dass diese Ergebnisse alle relativ sind und Deutschland trotz der Unsicherheit in den Monaten nach der Bundestagswahl zu den politisch und sozial stabilsten Ländern der Welt gehört. Die offensichtliche Diskrepanz zwischen Lebensqualität und Qualität der Gesellschaft, wie die EQLS Erhebung 2016 zeigt, ist jedoch Anlass zur Reflexion. Obwohl die Deutschen für ihre Zukunft optimistisch bleiben, sind sie für die Zukunft ihrer Kinder und Enkelkinder weniger optimistisch – und es scheint, dass ihr Optimismus eher durch gesellschaftliche als wirtschaftliche Sorgen gedämpft wird.
Die führende Stellung Deutschlands in Europa in den letzten Jahren war weitgehend auf die Position als Wirtschaftsmacht zurückzuführen. Deutschlands Platz in den kommenden Jahren kann auch durch seine Fähigkeit definiert werden, ein Kraftpaket für sozialen Zusammenhalt und Integration zu werden. Hier wird vor allem die neue Große Koalition, die sich nicht nur das Vorantreiben der europäischen Integration auf die Fahnen geschrieben hat, eine Rolle spielen. Insbesondere eine gelungene Integration von Asylsuchenden und Migranten wird entscheidend sein. Ob Deutschland seinen Spitzenplatz in Europa behalten kann, hängt aber auch vom erfolgreichen Aufrechterhalten einer freien und sicheren Gesellschaft und geschaffenem Wohlstand ab, was ebenfalls den Erfolg der Großen Koalition definieren wird.
Die EQLS Erhebung wird alle fünf Jahre durchgeführt. Es handelt sich um eine einzigartige, europaweite Umfrage, die sowohl die objektiven Umstände des Lebens der europäischen Bürgerinnen und Bürger untersucht als auch ihre Meinung zu diesen Umständen und ihrem Leben im Allgemeinen. Sie befasst sich mit einer Reihe von Themen wie Arbeit, Einkommen, Bildung, Wohnen, Familie, Gesundheit und Work-Life-Balance. Es geht auch um subjektive Themen, wie zufrieden sie mit ihrem Leben sind und wie sie die Qualität ihrer Gesellschaften wahrnehmen. Fast 37.000 Menschen in 33 europäischen Ländern wurden Ende 2016 für die neueste Ausgabe interviewt. Anfang diesen Jahres der Übersichtsbericht veröffentlicht wurde, dem weitere spezifische Analysen und Berichte folgen werden.